Ausstattung
Die Michaeliskirche besaß ursprünglich eine reiche und wertvolle Austattung. Im Zuge einer tiefgreifenden Umgestaltung der Kirche von 1792 bis 1794 unter dem Landschaftsdirektor Friedrich Ernst von Bülow wurden Ausstattungsstücke verkauft oder auch auch dem eigens geschaffenen "Museum" eingegliedert, aus dem später ein Grundstock des 1891 eröffneten Museums für das Fürstentum Lüneburg gebildet wurde. Es finden sich immernoch bemerkswerte Schätze in St. Michaelis:
Der Hochchor
Der Hochchor war zur Zeit des Klosters St. Michaelis dem Konvent vorbehalten. Er war lange Zeit durch einen Lettner vom Kirchenschiff getrennt. Das Kruzifix, das den Lettner einst zierte, ist Ihnen vielleicht aufgefallen als Sie in das Kirchenschiff kamen. Es hängt über der Glastür. Der Korpus stammt aus dem 15. Jahrhundert, das Kreuz aus dem 17. Jahrhundert.
Der Hochaltar
Bei dem Bild auf dem Hochaltar handelt es sich um eine Kopie der Darstellung der Beweinung Jesu Christi von Julius Wilhelm Rotermund (1826-1859) aus Hannover. Das Original befindet sich in der Dresdener Gemäldegalerie. Rotermund starb, bevor er die Arbeit an dem Orginalbild vollenden konnte. Der Düsseldorfer Historienmaler Eduard Bendemann, dessen Atelierschüler Rotermund war, stellte das Original fertig. Dargestellt wird die Kreuzesabnahme und Beweinung Jesu Christi. Im Johannesevangelium wird der Leichnam Jesu von zwei Männern versorgt. Deshalb sind auf dem Bild vermutlich Joseph von Arimathäa, der das Grab für Jesu Begräbnis zur Verfügung stellte und Nikodemus, einem Schüler Jesu dargestellt.
Maria von Magdala hält auf dem Bild die Hand des toten Jesus. Rechts im Hintergrund könnte Salome oder Johanna stehen, von denen in der Bibel gesprochen wird.
Links vom Kreuz steht ein junger Mann ohne Bart. Daran erkennt man in ihm Johannes, den Lieblingsjünger Jesu.
Obwohl sie in der Bibel in dieser Szene nicht erwähnt wird, ist auf diesem Bild anhand des blauen Umhanges und des roten Gewandes eindeutig Maria, die Mutter Jesu unter dem Kreuz zu erkennen.
Der Rahmen des Bildes trägt Schnitzfiguren. Links sind Johannes der Täufer, rechts Mose mit den Tafeln der 10 Gebote zu erkennen.
In der Predella, die den Altaraufsatz trägt, ist in der Mitte das Lamm Gottes mit der Siegesfahne abgebildet. Das Lamm ist ein Opfertier. Es wird als Symbol für Jesus Christus benutzt, weil Jesus sich geopfert hat und gekreuzigt wurde zur Vergebung der Sünden. Neben dem Lamm sehen Sie die vier Symbole der Evangelisten abgebildet. Matthäus mit dem Menschen als Symbol, Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier und Johannes mit dem Adler.
Auch die Bilder, die links und rechts oben an den Wänden hängen, stellen die vier Evangelisten dar. Sie sind aus dem Jahr 1791. Seit dem 4. Jahrhundert werden sie durch vier geflügelte Symbole dargestellt. Von links nach rechts sind zu sehen:
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes mit den Tiersymbolen an ihrer Seite.
Der Taufstein
Die Evangelisten und ihre geflügelten Symbole finden sich auch am großen Taufstein aus dem Jahr 1872. Der Taufstein trägt einen hoch aufstrebenden Deckel aus Holz in Form einer Turmbekrönung, auf der eine Figur Johannes des Täufers mit einem Gewand aus Kamelhaar und ledernem Gürtel steht. Er ist der biblischen Tradition nach nicht nur der Täufer, sondern auch der „Vorläufer“ Jesu. In der Hand hält er ein Buch auf dem das Lamm Gottes sitzt. Er verkündete das Kommen des Messias, vollzog zur Vorbereitung die Bußtaufe mit Wasser als Symbol für die Rettung im kommenden Weltgericht und versammelte eine Schar von Jüngern um sich. Jesus, der sich von ihm im Jordan taufen ließ, gehörte auch dazu. Hier weist er auf das Lamm als Symbol Jesu Christi, des Messias.
Die Inschrift auf dem Deckel ist der Taufbefehl aus dem Matthäusevangelium: "Gehet hin und lehret alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen"
Der große neugotische Taufstein ist ebenfalls wie der Altartisch aus Sandstein gefertigt. An den Ecken des Sockels sehen wir delphinähnliche Wesen. In den acht Feldern des Taufbeckens erkennen Sie die Figuren der vier Evangelisten mit ihren Symboltieren. Am oberen Rand des Beckens liest man in Großbuchstaben noch einmal den Taufbefehl Christi.
Die Fenster im Hochchor
Von der spätmittelalterlichen Verglasung der hohen Fenster kennt man nur kleine Stücke. Die Kirche erhielt Ende des 17. Jahrhunderts neue Fenster, die aber auch nicht mehr erhalten sind. Diese Fenster stammen weder aus einer Zeit noch aus einem einheitlichen Bildprogramm.
Die Bildmotive in den hohen Ostfenstern und die Bemalung des Deckengewölbes im Hochchor sollen symbolisch auf das himmlische Jerusalem und den Paradiesgarten hinweisen.
Der Blick wird besonders von der Darstellung Jesu im mittleren Fenster angezogen. Sie stammt aus dem Jahr 1918 und wurde von Henning & Andres aus Hannover geschaffen und gestiftet von Kaiser Wilhelm II.
Als Weltenrichter sitzt Jesus auf einem grünen Kreis – dem Zeichen für die Ewigkeit und breitet seine Arme aus als wollte er sagen: „Kommt her zu mir, alle, die ihr müh-selig und beladen seid, ich will euch erquicken.“
Links und rechts halten Engelfiguren Schalen in den Händen, aus denen blauer Rauch aufsteigt. Das nimmt ein Bild aus der Offenbarung des Johannes im 5. Kapitel auf, nach dem der aufsteigende Rauch die Gebete der Heiligen symbolisiert.
Über Jesus ist ein (Jagd)Hund mit roten Hängeohren zu erkennen. Dieses Motiv gehört zum Wappen der Hohenzollern und weist auf das Jagdrecht des Kaisers hin.
Die Orgel
Die große Orgel auf der Empore an der Westwand wurde im Jahr 1708 von Matthias Dropa aus Hamburg gebaut. Der junge Johann Sebastian Bach, der 1702 die Michaelisschule verließ, hat also nicht auf ihr gespielt. Matthias Dropa war Schüler des berühmten Orgelbauers Arp Schnitger.
Die Orgel hat einen sog. Hamburger Prospekt: Im Zentrum befindet sich das Haupt-werk, darunter – mit derselben Gestaltung – das Rückpositiv, das seinen Namen dem Umstand verdankt, dass es sich im Rücken des Organisten befindet. Der Spiel-tisch ist gleichsam zwischen Rückpositiv und Hauptgehäuse „versteckt“, und der Organist kann das Geschehen im Gottesdienst nur über eine Art „Rückspiegel“ verfolgen. In den großen Türmen rechts und links sind die Pedalregister untergebracht.
Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Orgel immer wieder verändert und der Klangäs-thetik der jeweiligen Zeit angepasst. Sie präsentiert sich heute als ein Instrument mit insgesamt 51 Registern, dessen Disposition sich im Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal eher am barocken Klangideal orientiert, das aber zusätzlich im schwellbaren Oberwerk zahlreiche Register romantischer Klanggebung aufweist.
Neben der großen Orgel gibt es in St. Michaelis noch drei weitere Orgeln: Die Chororgel, die Truhenorgel sowie die Orgel in der Unterkirche.
Die Kanzel
Ein herausragendes Kunstwerk ist die Kanzel aus Sandstein, 1601/1602 von dem Bildhauer David Schwenke (1575-1620) aus Pirna geschaffen.
Ihre Basis bildet die Figur des Apostels Paulus. Mit Schwert und Buch weist er darauf hin, dass Gottes Wort schärfer ist als ein zweischneidiges Schwert (Hebräer 4,12). Die Darstellungen an der Kanzelbrüstung beginnen mit alttestamentlichen Zitaten, in den Nischen sind Bilder aus dem Leben Jesu Christi zu sehen. Von links nach rechts sind zu sehen: Verkündigung der Geburt an Maria, Geburt Jesu, Taufe, Kreuzigung und Auferstehung, Himmelfahrt, außerdem das Jüngste Gericht und eine Darstellung der Trinität. Als Figuren sind die Evangelisten am Aufgang, im Zentrum Jesus Christus mit der Weltkugel, dazu die 12 Apostel und vier Propheten des Alten Testaments dargestellt. Alle Felder schließen unten mit zweizeiligen lateinischen Versinschriften ab, die wohl im späten 17. Jh. hinzugefügt wurden. Oberhalb jeden Feldes erscheint ein Löwenkopf.
Der Kanzelkorb war ursprünglich kleiner und stand niedriger als heute. Er wurde erweitert um die Bilder Verkündigung und Himmelfahrt. Die Kanzel wurde höher gesetzt, die Treppe verlängert und dabei mit zwei weiteren Figuren ausgestattet sowie den Wappen des Abtes von Post und des letzten hannov. Königs Georg V..
Der bestehende Schalldeckel von 1865 orientiert sich an den Formen des Vorgängers von 1671. Seit der letzten Restaurierung (1984) sind Wappen von Konventualen, die einst am Kanzelkorb befestigt waren, am Kanzelpfeiler angebracht.
Alle Felder schließen unten mit zweizeiligen lateinischen Versinschriften ab, die wohl im späten 17. Jh. hinzugefügt wurden. Oberhalb jeden Feldes erscheint ein Löwenkopf.
Die Goldene Tafel
Die Goldene Tafel war ein Wandelaltar, der sich zweimal aufklappen ließ.
Im aufgeklappten Zustand erreichte der Altar eine Spannweite von etwa 7,40 m.
Im Zentrum stand eine Goldplatte mit Reliefdarstellungen aus dem Leben Jesu und Mariens. Die Platte war mit Edelsteinen eingefasst. Diese so genannte „Goldene Tafel“ gab dem ganzen Altar ihren Namen.
Als Rahmung der Reliefplatte diente eine umlaufende Doppelreihe von Fächern verschiedener Größe. Darin standen 88 Gefäße aus Gold, Silber oder Elfenbein, die den klösterlichen Reliquienschatz beinhalteten.
Das Heiligtum der Goldenen Tafel zählte zu den bedeutendsten mittelalterlichen Kirchenschätzen Deutschlands. Mit einem spektakuären Raub stahl Nickel List 1698 die Goldene Tafel und große Teile des Schatzes.
1790 wurde der Hochaltar aus der Kirche entfernt und ein Großteil der Kunstschätze verkauft. Teile des Hochaltares befinden sich im Landesmuseum Hannover.
Ein Modell der Goldenen Tafel, durch eine Schulklasse gefertigt, befindet am Eingang zur Taufkapelle.
Das Epitaph der Herbord von Holle
Im Dezember 1532 feierten die Mönche des Klosters St. Michaelis das Abendmahl auf lutherische Weise. Damit hatten sich auch Kloster und Kirche St. Michaelis der Reformation angeschlossen.
Dieses Epitaph zeigt den ersten evangelischen Abt des Klosters, Herbord von Holle (gestorben 1555). Sein Nachfolger und Neffe Eberhard von Holle, der in Wittenberg bei Melanchthon studiert hatte, errichtete auf diese Weise ein Reformationsdenkmal in St. Michaelis.
Man sieht Herbord von Holle knieend vor dem Kruzifix. Seine Mitra, Zeichen seines Amtes, hat er abgelegt. Als gläubiger Mensch ist er aufrecht und demütig zugleich im Zwiegespräch mit Jesus Christus. Das Lendentuch Jesu Christi scheint im Wind zu wehen – das ist schon ein Hinweis auf die Auferstehung und das Heil, das Gott in Jesus Christus offenbart hat.
Der Abt ist angezogen wie ein Gelehrter und auf Augenhöhe mit den Reformatoren seiner Zeit, die im Rahmen abgebildet sind.
In drei Medaillons sind zu sehen: links oben Urbanus Rhegius als Reformator des welfischen Fürstentums Lüneburgs, Antonius Corvinus, Reformator des welfischen Fürstentums Calenberg, Stephan Kempe, Reformator der Stadt Lüneburg. Auf der rechten Seite von oben nach unten sind zu sehen: Martin Luther, Martin Bugenhagen, Organisator der Reformation in Norddeutschland, und Martin Chemnitz, Reformator der Stadt Braunschweig.
Das Epitaph hatte einen Aufsatz, von dem heute nur noch eine Darstellung des auferstandenen Christus zu sehen ist. Es scheint, als würde er tanzen – ein österlicher Freudentanz, denn der Tod ist besiegt, das ewige Leben ist uns verheißen.
Geschaffen wurde das Epitaph wohl von Jürgen Spinnrad aus Brauschweig; in Auftrag gegeben hat es Eberhard von Holle, Neffe und Nachfolger Herbords.
Die Abtswappentafel
An der östlichen Stirnwand des südlichen Seitenschiffs ist die Abtswappentafel aufgehängt. Sie wurde von Eberhard von Holle, Abt des Klosters von 1555-1586, in Auftrag gegeben. Sein Abts- und Bischofswappen bekrönt die Tafel. Seit 1561 war er auch Bischof von Lübeck.
Beginnend mit dem Klostergründer Hermann Billung erscheinen auf der Tafel die Wappen und Daten der Äbte des Klosters.
Auf der linken Seite der Tafel ist Hermann Billung als Gründer des Klosters in Figur abgebildet. Zu seinen Füßen rechts sein Wappenschild, darüber die Tafel mit folgender Inschrift:
Epitaph Herman Billungs, Herzogs zu Sachsen und Lüneburg, Fundator dieses Klosters
Herman Billung bin ich genannt
in dem römischen Reich wohl bekannt
ein Edelmann von Stibbeshorn
war von schlichtem Stamme geboren
Kunst, Tugend, Gerechtigkeit brachten mir
Dass Kaiser Otto mich zum Fürsten gemacht
Da ich nun erhoben zu einem Herrn
Da stifte ich Gott und dem Adel zu Ehren
Und baute dieses Kloster St. Michael wohlwahr
Da neben Lüneburg das Schloss alldar
War tüchtig streng in aller Tat
Otto der Große mich darum begnadet
Rechts daneben folgt das Verzeichnis der Äbte des Klosters in drei Reihen, der Sterbevermerk für jeden Abt auf grünem Grund über dessen Wappenschild.
Bei den Wappen handelt es sich wahrscheinlich um Fantasiewappen, wofür die einfachen, stark verbreiteten Wappen sprechen. Erst bei den Äbten aus jüngerer Zeit handelt es sich um echte Familienwappen.
Die Abtswappentafel ist spätestens 1562 angefertigt worden. Sie diente dazu, die altehrwürdige Herkunft des Klosters St. Michaelis und die Wichtigkeit des Fortbestandes dieser Institution in evangelischer Zeit zu bekräftigen. Darum stehen der Landesherr als Gründer und die lange Reihe der Äbte im Mittelunkt der Darstellung.
Die Medaillons und Gegenstände im Nordschiff
Die Porträtdarstellungen von Martin Luther und Philipp Melanchthon - zwei maßgebliche Köpfe der Reformation - sind sie hier durch das auf beide Sandsteintafeln verteilte Zitat aus 1. Korintherbrief aufeinander bezogen: „Der Tod ist verschlungen in dem Sieg.“ "Tod, wo ist dein Stachel, Heil, wo ist dein Sieg?“ Die Medaillons waren bereits 1796 einzeln in die Nordwand der Kirche eingemauert.
Das Relief des Erzengels Michael – des Namensgebers der Kirche – und das Medaillon mit der Rosenkranzmadonna stammen beide aus dem 16. Jahrhundert.
An der Ostwand ist eine Kreuzigungsdarstellung mit metallenem Korpus eingelassen.
Im Nordschiff weiter vorne sind an der Wand zur Abtskapelle Bildnisse von vier Landschaftsdirektoren gehängt. Es sind Eberhard v. Holle († 1586), Johann H. v. Hasselhorst († 1642), Statius Fr. v. Post († 1671) und Joachim Fr. v. Lüneburg († 1764). Ihre Kleidung entspricht nicht mehr denen eines Abtes, sondern eines Land-hofmeisters oder auch Landschaftsdirektors.
Darunter sind in den Nischen noch folgende Gegenstände zu sehen:
Das Tafelbild zeigt die Fußwaschung, die Jesus an Petrus vollzieht und im Hintergrund das Abendmahl. Bei der abgeschnittenen Figur handelt es sich um Judas, der den Beuten mit dem Geld trägt, das er für den Verrat Jesu bekommen hat. Durch diese gleichzeitige Darstellung von verschiedenen Stationen wird die Passionsge-schichte Jesu erzählt. Die Tafel ist Ende des 15. Jh. gemalt worden.
Das Bronzebecken stammt aus dem Jahr 1487. Wozu es diente ist nicht mit Sicherheit zu sagen: vielleicht wärmte sich der Priester die Hände daran oder es wurde benutzt um die Rauchfässer zu entfachen oder man zündete das Osterfeuer daran an.
Die Pieta stammt aus dem 15 Jh.: Maria sitzt auf einer steinernen Grasbank. Auf ihren Knien liegt der steife Körper des verstorbenen Jesus. Kopf und Beine der Statue waren schon im 19 Jh. verloren.
Gedenktafeln in der Turmhalle
An der Nordwand der Turmhalle befinden sich Gedenktafeln für Soldaten, die in drei verschiedenen militärischen Konflikten gestorben sind. Allen fünf Tafeln liegt das besondere Kapitel der Kirchengeschichte zugrunde, dass Sankt Michaelis zwischen 1795 und 1945 Garnisonskirche war. Somit handelt es sich bei den namentlich Verzeichneten nicht um Gemeindemitglieder im engeren Sinne, sondern um Soldaten der Lüneburger Garnison.
Seit dem 17. Jahrhundert beherbergte die Stadt Lüneburg Soldaten des Landesherrn. Nachdem Ende des 18. Jahrhunderts ein eigens für die Soldaten errichteter hölzerner Kirchenbau am Kalkberg baufällig geworden war, wurde 1795 die Michaeliskirche in einem Vertrag mit der Stadt offiziell zur Garnisonskirche erklärt und war damit zukünftig seelsorgerlich für das in Lüneburg stationierte Militär verantwortlich. Diesem Beschluss vorauseilend, hatte Abt Friedrich Ernst von Bülow im Zuge umfangreicher Umgestaltungen des Kircheninnenraums Emporen in die Seitenschiffe einbauen lassen. Ab 1795 war die Südempore den Angehörigen der Garnison vorbehalten. Heute zeugen von jener Zeit der Garnisonskirche nur noch die Reste der Emporenbögen in den Außenwänden, ein Schrank neben dem Aufgang zur Orgelempore und eben die Gedenktafeln in der Turmhalle.
Im Folgenden wird – in unterschiedlicher Ausführlichkeit – auf die historischen Hintergründe eingegangen, die zu den drei Gedenktafeln geführt haben:
Deutsch-französischer Krieg 1870/71
Im 19. Jahrhundert strebten weite Teile der Bevölkerung der vielen deutschen Territorien des zersplitterten einstigen Reiches der Demokratisierung und vor allen Dingen der Vereinigung zu einem einheitlichen Staat zu. Parallel dazu war das aufstrebende Preußen bemüht, sich eine Vorherrschaft in einem solchen entstehenden Staat zu sichern. In diesem Zusammenhang meinte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, die Interessengegensätze der verschiedenen deutschen Teilstaaten könnten nur durch den Kampf gegen einen gemeinsamen äußeren Feind überwunden werden. Absichtlich ließ er einen diplomatischen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen so sehr eskalieren, dass Frankreich – gefangen im zeitgenössischen Ehrenkodex – sich im Juni 1870 gezwungen sah, Preußen den Krieg zu erklären. Und Bismarcks zynisches Kalkül ging auf: Die deutschen Teilstaaten eilten Preußen zu Hilfe, unterstellten ihre Truppen preußischem Befehl. Nach etwa sieben Monaten Krieg und knapp 200.000 Toten auf beiden Seiten – darunter auch die in Lüneburg stationierten Soldaten – war Frankreich besiegt.
Noch bevor die Kampfhandlungen beendet waren, führte Bismarck seine innenpolitischen Bemühungen zum Ziel: Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Das Ziel der Vereinigung war erreicht: das Deutsche Reich war gegründet; allein, die Demokratie ließ noch auf sich warten.
Doch die siegreichen Deutschen gaben sich mit dem geeinten „Vaterland“ nicht zufrieden. Hatte Frankreich schon die Demütigung der Kaiserkrönung in Versailles ertragen müssen, so musste das Land auch noch hohe Zahlungen an Deutschland leisten und die Gebiete Elsass und Lothringen abgeben. In ihrer nationalen Trunkenheit werden es die deutschen Zeitgenossen nicht geahnt haben, doch sie bereiteten damit bereits den Nährboden für das Entstehen des noch größeren und noch todbringenderen Krieges gut 40 Jahre später. Heute können wir die historische Verknüpfung zwischen der rechten und der mittleren Gedenktafel deutlich erkennen.
Herero-Aufstand 1904/05
Der Hintergrund der Gedenktafel ganz links an der Nordwand der Kirche ist den meisten Menschen am wenigsten präsent und wird daher hier am ausführlichsten erläutert:
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte in mehreren europäischen Staaten eine neue Welle des Kolonialismus ein: unter verschiedenen vorgeschobenen fadenscheinigen Begründungen wurde der afrikanische Kontinent eingenommen und den jeweiligen nationalen macht- und finanzpolitischen Interessen unterstellt, ohne auch nur im geringsten die afrikanische Bevölkerung und die gewachsenen afrikanischen Strukturen zu respektieren.
Mit der Reichsgründung von 1871 war auch das Deutsche Reich in den Kreis der europäischen Großmächte aufgestiegen. Es dauerte nicht lange, bis der nationalistische Überschwang sich in Begehrlichkeiten auf den afrikanischen Kontinent ausdrückte. Zwar war der die deutsche Außenpolitik maßgeblich gestaltende Reichskanzler Otto von Bismarck ein dezidierter Gegner von Kolonialbesitz, doch konnte auch er sich dem Großmachtstreben einflussreicher Bevölkerungsgruppen im Reich nicht entziehen: 1884 erklärte Bismarck ein 835.000 km2 großes Gebiet im Südwesten Afrikas zum „Deutschen Schutzgebiet“, um die Handelstätigkeiten deutscher Kaufleute militärisch und diplomatisch zu „schützen“ – die Kolonie „Deutsch-Südwest“ war gegründet. Noch im selben Jahr wurde deutsches Militär, die sogenannten „Schutztruppe“ im Land stationiert.
1897 raffte eine Rinderpest einen großen Teil der Viehbestände der Stämme der Herero und Nama hinweg. Eine Hungersnot breitete sich unter der einheimischen Bevölkerung aus. In ihrer Not verschuldeten sich insbesondere die Hereros bei den deutschen Kaufleuten, die ihrerseits die Notlage ausnutzten und die Hereros mit Knebelverträgen in die wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit zwangen.
Ab 1902 bauten die deutschen Kolonialisten mehrere große Eisenbahnlinien durch das Land, zerschnitten damit die Weideflächen der Herero und Nama und verschärften somit deren Versorgungsnotlage. Immer mehr Stammesangehörige mussten sich in die Abhängigkeit der deutschen Kaufleute begeben. In ihrer Existenz bedroht, begannen die Hereros Ende 1903, gegen die unlauteren Geschäftspraktiken der deutschen Fremdherrscher aufzubegehren.
Im Januar 1904 kam es zum ersten bewaffneten Aufstand der Hereros gegen die Deutschen, der dazu führte, dass sich die Deutschen in wenige bewaffnete Ortschaften zurückziehen mussten. Nachdem die „Schutztruppe“ aus dem Deutschen Reich verstärkt worden war, begann ein systematischer Vernichtungskrieg, der erst in einem großen Kampf im August 1904 gipfelte, in dem die Herero unterlagen und dann in Verfolgung überging. Die überlebenden Stammesangehörigen flohen in die Wüste. Dort wurden aber die wenigen vorhandenen Wasserstellen von den deutschen Soldaten abgeriegelt; flüchtende Hereros wurden an der Flucht gehindert. Frauen, Kinder und Männer mussten in der Wüste verdursten.
Durch den ursprünglich erfolgreichen Aufstand der Herero ermutigt, begehrten im Herbst 1904 auch Stämme der Nama im Süden des Landes gegen die deutsche Fremdherrschaft auf. Mehr als drei Jahre führten sie einen Guerillakrieg gegen die „Schutztruppe“, bis sie sich im Frühjahr 1908 schließlich der deutschen Übermacht ergaben.
Die wenigen überlebenden Kinder, Frauen und Männer der Herero und Nama wurden von den deutschen Besatzern in Konzentrationslager gesperrt, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten. Vermutlich starb in diesen Lagern knapp die Hälfte der internierten Herero und Nama.
Im Reichstag in Berlin echauffierten sich manche Abgeordnete durchaus über das unmenschliche Geschehen in „Deutsch-Südwest“. Auch einige wohl informierte Bürger im Deutschen Reich wussten, was sich in der deutschen Kolonie zugetragen hatte. Die breite deutsche Öffentlichkeit blieb aber weitgehend ahnungslos, welcher Völkermord sich im fernen Afrika ereignete. Auch die Gedenktafel in der Lüneburger Sankt Michaelis-Kirche trug nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit dem damals aktuellen Geschehen bei.
Vor dem Hintergrund fehlender Bevölkerungszahlen wird es vermutlich nie möglich sein zu ermitteln, wie viele Afrikaner Opfer der deutschen Kolonialtruppen wurden. Es wird angenommen, dass zwischen 40.000 und 60.000 Herero und etwa 10.000 Nama getötet und ermordet wurden.
Im Jahr 2016 bezeichnete die Regierung der Bundesrepublik Deutschland das Handeln der Deutschen im damaligen Südwest-Afrika, heute Namibia, als Kriegsverbrechen und Völkermord.
Erster Weltkrieg 1914-18
Es kann hier nicht der Ort sein, die Entstehung und den Verlauf des Ersten Weltkriegs nachzuvollziehen. Auch in diesem Krieg kam es zu Kriegsverbrechen an zivilen Bevölkerungsgruppen, wurde von mehreren Kriegsparteien gegen das sogenannte „Kriegsrecht“ verstoßen, führte der irrationale und von den Propagandaapparaten der beteiligten Staaten hochstilisierte „Kampf für das Vaterland“ zu massenhaftem Töten. Insgesamt starben in diesem bis dahin beispiellosen Krieg etwa 17 Millionen Menschen aus 40 Staaten der Erde – 3598 von ihnen gehörten dem in Lüneburg stationierten Infanterieregiment an.
Wurden die Tafeln Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit patriotischem Tenor und mit – mindestens bei den Tafeln von 1870/71 und 1904/05 - kriegsverharmlosender Haltung aufgehängt, so dienen sie uns heute der Erinnerung, der Erinnerung der genannten und nicht genannten Opfer des grausamen Tötens und Sterbens auf allen Seiten und der Erinnerung, dass wir uns friedlich dafür einsetzen wollen, dass es kein Töten und Morden mehr gibt.
Die Opfer der
Kriege und Gewalt
mahnen uns
HERR
mache mich
zum Werkzeug
deines Friedens