St. Michaelis Lüneburg

Geschichte

St. Michaelis ist eine ehemalige Klosterkirche und nimmt als solche eine Sonderstellung unter den Sakralbauten der Stadt ein.

Das Michaeliskloster mit Michaeliskirche befand sich vom 10. Jahrhundert bis 1371 auf dem einst viel grösseren Kalkberg als benediktinisches Hauskloster und Grablege der Billunger und Welfen. Nach der Zerstörung von Burg und Kloster durch die Bürger Lüneburgs wurden Kloster und Kirche innerhalb der Stadtmauern 1376 neu errichtet. Aufgrund der Hanglage des Geländes, das der Orden für den Neubau des Klosters und der Kirche von der Stadt zugewiesen bekam, waren Substruktionsbauten notwendig, um die Kirche an diesem Hang bauen zu können.
Anstelle einer Grablege wurde hier eine Krypta oder auch Unterkirche geschaffen, die 1379 geweiht wurde.
Das Langhaus wurde am 11. Juli 1418 geweiht.

Zur Baugeschichte
Die Kirche ist eine dreischiffige, gotische Backstein – Hallenkirche, die infolge des nach Süden und Osten stark abfallenden Geländes im Osten ein starkes Fundament brauchte, wozu man eine Unterkirche in den Osthang baute, die gleichzeitig eine erste Verbindung zu den Klostergebäuden im Norden der Kirche schaffte. Ihre Säulen wurden 1894 – 1898 weitgehend neu aufgeführt, auch das Auferstehungsfenster und die Leuchter stammen aus jener Zeit . Aus der Entstehungszeit sind noch an den Wänden12 Weihekreuze erkennbar, vor allem aber die 18 Schlusssteine der mittelalterlichen Gewölbe, die eine besondere Kostbarkeit darstellen. Sie zeigen in 3 Reihen jeweils biblische Symbole für Christus, Maria und für die Aufgaben des Abtes. 1376 wurde der Grundstein für Unterkirche und Klostergebäude gelegt, 1388 zog der Konvent in die Klosteranlagen ein und benutzte die 1379 fertiggestellte Unterkirche für seine Gottesdienste, bis 1418 der Bau der Oberkirche beendet und auch diese geweiht war.
Mit der Errichtung des Turmes wurde erst 1430 begonnen; die Arbeiten wurden 1434 nach der Fertigstellung der Turmhalle und zweier darüber liegender Geschosse eingestellt und der Turm mit einem vierseitigen Pyramidendach versehen, das erst 1767 durch die heutige welsche Haube ersetzt wurde.
Die Kirche hatte zunächst drei getrennte Satteldächer über den Schiffen, die 1750/51 durch ein einziges Dach ersetzt wurden. 1794/95 erfolgte eine völlige Umgestaltung des Innenraums im Sinne der Aufklärung, 1864 – 1866 wurde ein Teil davon wieder rückgängig gemacht und der gotische Grundcharakter in neugotischer Form wiederhergestellt. Die letzte große Restaurierung erfolgte 1968 – 1972.

 

1388 zog der Konvent der Benediktiner in die sich nördlich an die Kirche anschließenden Gebäude ein.
Seit dem 10. Jahrhundert gehörte auch eine Schule zum Kloster. 1340 wurde diese durch eine externe Schule ergänzt – die Michaelisschule. Sie wurde dem Kloster von Herzog Otto I. geschenkt und sicherte dem Kloster bis 1406 das örtliche Schulmonopol.

Mit der Errichtung des Turmes von St. Michaelis wurde erst 1430 begonnen – also 12 Jahre nach Schlussweihe der Kirche. Sein heutiges Aussehen mit der barocken sogenannten welschen Haube erhielt er erst über 300 Jahre später, im Jahr 1767.

 

St. Michaelis im Wandel der Zeit
Das Kloster spielte eine bedeutende Rolle im Lande, der Abt war der vornehmste Geistliche in der Ständeversammlung, der „lüneburgischen Landschaft“. Die Klosterschule und die Partikularschule (für Knaben bürgerlicher Herkunft) waren weithin berühmt.

Im Mettenchor der letzteren sang Johann Sebastian Bach von 1700 bis 1702 als Chorknabe.

Im Jahre 1532 wurde das Kloster evangelisch, blieb aber als einziges Mönchskloster des Territoriums als ev. benediktinisches Ordenshaus erhalten. Erst 1655 wurde der ev. Konvent aufgelöst und in den Klostergebäuden die so genannte Ritterakademie zur Erziehung adeliger Söhne des Landes eingerichtet. Das Abtsamt blieb als Amt des Landhofmeisters, später Landschaftsdirektor bestehen.
1850 wurden Kloster und Ritterakademie aufgehoben, der größte Teil der Klostergebäude an staatliche Instanzen abgetreten, die Kirche selbst blieb Eigentum der Klosterkammer, einer eigenständigen Landesbehörde, von der sie bis heute unterhalten wird.

 

St. Michaelis als Garnisonkirche
An der Nordwand der Turmhalle befinden sich Gedenktafeln für Soldaten, die in drei verschiedenen militärischen Konflikten gestorben sind. Allen fünf Tafeln liegt das besondere Kapitel der Kirchengeschichte zugrunde, dass Sankt Michaelis zwischen 1795 und 1945 Garnisonskirche war. Somit handelt es sich bei den namentlich Verzeichneten nicht um Gemeindemitglieder im engeren Sinne, sondern um Soldaten der Lüneburger Garnison.
Seit dem 17. Jahrhundert beherbergte die Stadt Lüneburg Soldaten des Landesherrn. Nachdem Ende des 18. Jahrhunderts ein eigens für die Soldaten errichteter hölzerner Kirchenbau am Kalkberg baufällig geworden war, wurde 1795 die Michaeliskirche in einem Vertrag mit der Stadt offiziell zur Garnisonskirche erklärt und war damit zukünftig seelsorgerlich für das in Lüneburg stationierte Militär verantwortlich. Diesem Beschluss vorauseilend, hatte Abt Friedrich Ernst von Bülow im Zuge umfangreicher Umgestaltungen des Kircheninnenraums Emporen in die Seitenschiffe einbauen lassen. Ab 1795 war die Südempore den Angehörigen der Garnison vorbehalten. Heute zeugen von jener Zeit der Garnisonskirche nur noch die Reste der Emporenbögen in den Außenwänden, ein Schrank neben dem Aufgang zur Orgelempore und eben die Gedenktafeln in der Turmhalle.

Im Folgenden wird – in unterschiedlicher Ausführlichkeit – auf die historischen Hintergründe eingegangen, die zu den drei Gedenktafeln geführt haben:

Deutsch-französischer Krieg 1870/71
Im 19. Jahrhundert strebten weite Teile der Bevölkerung der vielen deutschen Territorien des zersplitterten einstigen Reiches der Demokratisierung und vor allen Dingen der Vereinigung zu einem einheitlichen Staat zu. Parallel dazu war das aufstrebende Preußen bemüht, sich eine Vorherrschaft in einem solchen entstehenden Staat zu sichern. In diesem Zusammenhang meinte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, die Interessengegensätze der verschiedenen deutschen Teilstaaten könnten nur durch den Kampf gegen einen gemeinsamen äußeren Feind überwunden werden. Absichtlich ließ er einen diplomatischen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen so sehr eskalieren, dass Frankreich – gefangen im zeitgenössischen Ehrenkodex – sich im Juni 1870 gezwungen sah, Preußen den Krieg zu erklären. Und Bismarcks zynisches Kalkül ging auf: Die deutschen Teilstaaten eilten Preußen zu Hilfe, unterstellten ihre Truppen preußischem Befehl. Nach etwa sieben Monaten Krieg und knapp 200.000 Toten auf beiden Seiten – darunter auch die in Lüneburg stationierten Soldaten – war Frankreich besiegt.
Noch bevor die Kampfhandlungen beendet waren, führte Bismarck seine innenpolitischen Bemühungen zum Ziel: Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Das Ziel der Vereinigung war erreicht: das Deutsche Reich war gegründet; allein, die Demokratie ließ noch auf sich warten.
Doch die siegreichen Deutschen gaben sich mit dem geeinten „Vaterland“ nicht zufrieden. Hatte Frankreich schon die Demütigung der Kaiserkrönung in Versailles ertragen müssen, so musste das Land auch noch hohe Zahlungen an Deutschland leisten und die Gebiete Elsass und Lothringen abgeben. In ihrer nationalen Trunkenheit werden es die deutschen Zeitgenossen nicht geahnt haben, doch sie bereiteten damit bereits den Nährboden für das Entstehen des noch größeren und noch todbringenderen Krieges gut 40 Jahre später. Heute können wir die historische Verknüpfung zwischen der rechten und der mittleren Gedenktafel deutlich erkennen.

Herero-Aufstand 1904/05
Der Hintergrund der Gedenktafel ganz links an der Nordwand der Kirche ist den meisten Menschen am wenigsten präsent und wird daher hier am ausführlichsten erläutert:
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte in mehreren europäischen Staaten eine neue Welle des Kolonialismus ein: unter verschiedenen vorgeschobenen fadenscheinigen Begründungen wurde der afrikanische Kontinent eingenommen und den jeweiligen nationalen macht- und finanzpolitischen Interessen unterstellt, ohne auch nur im geringsten die afrikanische Bevölkerung und die gewachsenen afrikanischen Strukturen zu respektieren.
Mit der Reichsgründung von 1871 war auch das Deutsche Reich in den Kreis der europäischen Großmächte aufgestiegen. Es dauerte nicht lange, bis der nationalistische Überschwang sich in Begehrlichkeiten auf den afrikanischen Kontinent ausdrückte. Zwar war der die deutsche Außenpolitik maßgeblich gestaltende Reichskanzler Otto von Bismarck ein dezidierter Gegner von Kolonialbesitz, doch konnte auch er sich dem Großmachtstreben einflussreicher Bevölkerungsgruppen im Reich nicht entziehen: 1884 erklärte Bismarck ein 835.000 km2 großes Gebiet im Südwesten Afrikas zum „Deutschen Schutzgebiet“, um die Handelstätigkeiten deutscher Kaufleute militärisch und diplomatisch zu „schützen“ – die Kolonie „Deutsch-Südwest“ war gegründet. Noch im selben Jahr wurde deutsches Militär, die sogenannten „Schutztruppe“ im Land stationiert.
1897 raffte eine Rinderpest einen großen Teil der Viehbestände der Stämme der Herero und Nama hinweg. Eine Hungersnot breitete sich unter der einheimischen Bevölkerung aus. In ihrer Not verschuldeten sich insbesondere die Hereros bei den deutschen Kaufleuten, die ihrerseits die Notlage ausnutzten und die Hereros mit Knebelverträgen in die wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit zwangen.
Ab 1902 bauten die deutschen Kolonialisten mehrere große Eisenbahnlinien durch das Land, zerschnitten damit die Weideflächen der Herero und Nama und verschärften somit deren Versorgungsnotlage. Immer mehr Stammesangehörige mussten sich in die Abhängigkeit der deutschen Kaufleute begeben. In ihrer Existenz bedroht, begannen die Hereros Ende 1903, gegen die unlauteren Geschäftspraktiken der deutschen Fremdherrscher aufzubegehren.
Im Januar 1904 kam es zum ersten bewaffneten Aufstand der Hereros gegen die Deutschen, der dazu führte, dass sich die Deutschen in wenige bewaffnete Ortschaften zurückziehen mussten. Nachdem die „Schutztruppe“ aus dem Deutschen Reich verstärkt worden war, begann ein systematischer Vernichtungskrieg, der erst in einem großen Kampf im August 1904 gipfelte, in dem die Herero unterlagen und dann in Verfolgung überging. Die überlebenden Stammesangehörigen flohen in die Wüste. Dort wurden aber die wenigen vorhandenen Wasserstellen von den deutschen Soldaten abgeriegelt; flüchtende Hereros wurden an der Flucht gehindert. Frauen, Kinder und Männer mussten in der Wüste verdursten.
Durch den ursprünglich erfolgreichen Aufstand der Herero ermutigt, begehrten im Herbst 1904 auch Stämme der Nama im Süden des Landes gegen die deutsche Fremdherrschaft auf. Mehr als drei Jahre führten sie einen Guerillakrieg gegen die „Schutztruppe“, bis sie sich im Frühjahr 1908 schließlich der deutschen Übermacht ergaben.
Die wenigen überlebenden Kinder, Frauen und Männer der Herero und Nama wurden von den deutschen Besatzern in Konzentrationslager gesperrt, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten. Vermutlich starb in diesen Lagern knapp die Hälfte der internierten Herero und Nama.
Im Reichstag in Berlin echauffierten sich manche Abgeordnete durchaus über das unmenschliche Geschehen in „Deutsch-Südwest“. Auch einige wohl informierte Bürger im Deutschen Reich wussten, was sich in der deutschen Kolonie zugetragen hatte. Die breite deutsche Öffentlichkeit blieb aber weitgehend ahnungslos, welcher Völkermord sich im fernen Afrika ereignete. Auch die Gedenktafel in der Lüneburger Sankt Michaelis-Kirche trug nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit dem damals aktuellen Geschehen bei.

Vor dem Hintergrund fehlender Bevölkerungszahlen wird es vermutlich nie möglich sein zu ermitteln, wie viele Afrikaner Opfer der deutschen Kolonialtruppen wurden. Es wird angenommen, dass zwischen 40.000 und 60.000 Herero und etwa 10.000 Nama getötet und ermordet wurden.
Im Jahr 2016 bezeichnete die Regierung der Bundesrepublik Deutschland das Handeln der Deutschen im damaligen Südwest-Afrika, heute Namibia, als Kriegsverbrechen und Völkermord.


Erster Weltkrieg 1914-18
Es kann hier nicht der Ort sein, die Entstehung und den Verlauf des Ersten Weltkriegs nachzuvollziehen. Auch in diesem Krieg kam es zu Kriegsverbrechen an zivilen Bevölkerungsgruppen, wurde von mehreren Kriegsparteien gegen das sogenannte „Kriegsrecht“ verstoßen, führte der irrationale und von den Propagandaapparaten der beteiligten Staaten hochstilisierte „Kampf für das Vaterland“ zu massenhaftem Töten. Insgesamt starben in diesem bis dahin beispiellosen Krieg etwa 17 Millionen Menschen aus 40 Staaten der Erde – 3598 von ihnen gehörten dem in Lüneburg stationierten Infanterieregiment an.

Wurden die Tafeln Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit patriotischem Tenor und mit – mindestens bei den Tafeln von 1870/71 und 1904/05 - kriegsverharmlosender Haltung aufgehängt, so dienen sie uns heute der Erinnerung, der Erinnerung der genannten und nicht genannten Opfer des grausamen Tötens und Sterbens auf allen Seiten und der Erinnerung, dass wir uns friedlich dafür einsetzen wollen, dass es kein Töten und Morden mehr gibt.

Die Opfer der
Kriege und Gewalt
mahnen uns
HERR
mache mich
zum Werkzeug
deines Friedens

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